Sonntag, 22. März 2015
Metaphysik schließlich teilt Peirce ein in I. Allgemeine Metaphysik oder Ontologie, II. Psychische oder Religiöse Metaphysik, "die sich hauptsächlich mit den Fragen nach 1. Gott, 2. Freiheit, 3. Unsterblichkeit beschäftigt" (PLZ, p. 42) und III. Materiale Metaphysik, "welche die wirkliche Natur der Zeit, des Raums, der Naturgesetze, der Materie usw. erörtert" (ibid.)

Wie nicht schwer ersichtlich, bezieht sich Peirce hier auf Kant (übrigens nicht nur hier und bei der Pragmatischen Maxime, ist Kant - neben Aristoteles und den Scholastikern auch implizit Leibniz und Schelling - der wesentliche Einfluss kontinentaleuropäischer Tradition für Peirce). Das zwiespältige Verhältnis von "psychischer" und "materialer" Metaphysik ist im Grunde seit Kant bis heute dasselbe geblieben. Was Peirce noch als "Materiale Metaphysik" definiert, dürfte heute wohl sowohl im wissenschaftlichen wie im öffentlichen Alltagsverständnis so gut wie ausschließlich die Aufgabe der Physik und Astronomie darstellen. Von einer ursprünglichen Einheit innerhalb einer umfassenden "Naturphilosophie" dürfte das frühe 21. Jahrhundert einen großen Schritt weg vom Verstehenshorizont, wie sie die peircesche Konzeption nahelegt, weg gemacht haben.

Die Weiteren Klassifikationen, so etwa die der "nomologischen Physik", "Klassifikatorischen Physik", "Reinen Chemie", "Beschreibender Psychik" usf. soll an dieser Stelle nicht weiter behandelt werden. Übrigens bricht Peirce selbst seinen Klassifikationsentwurf der Wissenschaften am Ende des Kapitels ab (PLZ, p. 44).

Was also kann als Essenz dieses ersten Kapitels des Syllabus angesehen werden? Hier ist zum einen auf jedenfall die Neigung zu trichotomischen - also dreiteiligen - Klassifikationen zu nennen. Sie wird nicht nur die bekannteste und wichtigste Einteilung des Zeichens betreffen, sondern auch die noch grundlegendere Unterscheidung der peirceschen Kategorienlehre in Erstheit, Zweitheit und Drittheit.

Weiters ist der Hinweis darauf, dass unter "Phänomen" all dasjenige zu verstehen ist, was "zu irgendeiner Zeit auf irgendeine Weise gegenwärtig ist" - hier wird der Begriff des "Phaneron" eine zentrale Rolle spielen - grundlegend für das weitere Verständnis des Syllabus.

Schließlich ist die grundlegende Bestimmung der Logik unter der Tatsache, dass alles Denken mittels Zeichen vollzogen wird, für das peircesche Verständnis von "Logik" zentral.

Im zweiten Kapitel des Syllabus wird das grundlegende Verhältnis von Sprache und Denken im Zentrum stehen.




Samstag, 21. März 2015
Die entdeckenden Wissenschaften gliedert Peirce in I. Mathematik, II. Philosophie und III. Idioskopie. Inwiefern nun sind diese Wissenschaften entdeckend?

"Die Mathematik untersucht, was oder was nicht logisch möglich ist, ohne sich für dessen tatsächliche Existenz zu verbürgen. Die Philosophie ist in dem Sinne eine positive Wissenschaft als sie entdeckt, was wirklich wahr ist; doch beschränkt sie sich auf die Gruppe solcher Wahrheiten, die aus der alltäglichen Erfahrung erschlossen werden können. Die Idioskopie umfasst alle jene speziellen Wissenschaften, die sich hauptsächlich mit dem Ansammeln neuer Tatsachen beschäftigen" (PLZ, p.39f.)

Im Folgenden soll die Unterteilung und Verästelung der Philosophie genauer betrachtet werden. So gliedert Peirce die Philosophie in a. Phänomenologie, b. Normative Wissenschaft, c. Metaphysik und erläutert:

"Die Phänomenologie ermittelt und untersucht die Arten von Elementen, die im Phänomen universell gegenwärtig sind, wobei mit Phänomen alles gemeint ist, was zu irgendeiner Zeit auf irgendeine Weise gegenwärtig ist. Die Normative Wissenschaft unterscheidet dasjenige, was sein sollte, von dem, was nicht sein sollte [...] Die Metaphysik sucht nach einer Darstellung des Universums des Geistes und der Materie." (PLZ, p.40)

Wesentlich für die Klassifikation ist nun, wie sich die einzelnen Verzweigungen aufeinander beziehen: So beruht die Normative Wissenschaft "weitgehend", so Peirce, auf Phänomenologie und Mathematik, die Metaphysik auf Phänomenologie und Normativer Wissenschaft. Die Phänomenologie sieht Peirce "zum gegenwärtigen Zeitpunkt" als ein einziges Forschungsgebiet. Die Normative Wissenschaft wird weiter in I. Ästhetik, II. Ethik und III. Logik unterteilt (PLZ, p.41).

Peirce definiert Ästhetik als die "Wissenschaft der Ideale oder Wissenschaft von dem, was objektiv, ohne weitergehenden Grund, bewundernswert ist" und auf Phänomenologie gründet. Ethik als "Wissenschaft vom Richtigen und Falschen" gründet auf Ästhetik und bestimmt so das summum bonum. Ethik ist "die Theorie des selbstkontrollierten oder überlegten Handelns" (ibid.)
Logik schließlich definiert Peirce als "Theorie des selbskontrollierten oder überlegten Denkens und muss sich als solche in ihren Prinzipien auf die Ethik stützen", ist aber auch von Phänomenologie und Mathematik abhängig (PLZ, p. 41f.)

Gleich darauf gibt Peirce eine erste Bestimmung der Rolle des Zeichens, die auch die fundamentale Bedeutung der Logik herausstreicht:

"Da alles Denken mittels Zeichen vollzogen wird, kann man die Logik als die Wissenschaft von den allgemeinen Gesetzen der Zeichen betrachten. (PLZ, p. 42)

Die drei Zweige der Logik sind: I. Spekulative Grammatik oder "allgemeine Theorie des Wesens und der Bedeutung der Zeichen, ob sie nun Ikons, Indices oder Symbole sind" [Anm.: Hier reißt Peirce schon eine für sein Denken absolut grundlegende Einteilung des Zeichens an, wie sie später im Syllabus sowie an zahllosen anderen Orten seiner Schriften entwickelt wird], II. Kritik, die die Argumente klassifiziert und Gültigkeit sowie Wirkungsgrad dieser feststellt, III. Methodeutik, als Untersuchung der Methoden zur "Erforschung, Darstellung und Anwendung der Wahrheit".




Alexander von Humboldt

Der Syllabus beginnt mit dem Versuch, die "Wissenschaften in ihrem gegenwärtigen Zustand als Unternehmungen von Gruppen lebender Menschen" (PLZ, p. 39) darzustellen. Peirce stellt also von Anfang an klar, dass mit seinem Entwurf kein Universalitätsanspruch erhoben wird. Seit dem frühen 20. Jahrhundert haben "die Wissenschaften" einen enormen Fortschritt oder Wandel erfahren, heute würde ein Klassifikationsversuch (wenn er überhaupt sinnvoll möglich wäre) vollkommen anders aussehen.

Es geht aber im Grunde um etwas wesentlicheres Anderes, um eine elementare Struktur, um etwas Gleichbleibendes im Wandel der konkreten Phänomene und dem Versuch, diese zu verstehen.

Dieses wesentliche Element der Klassifizierung lehnt sich an die Konzeption der Comteschen Klassifikation an, wie Peirce ausführt: "nämlich die Auffassung, nach der eine Wissenschaft in ihren grundlegenden Prinzipien von einer anderen Wissenschaft abhängt, jedoch dieser keine solcher Prinzipien vorgibt" (ibid.) Absolut grundlegend dabei ist eine trichotomische Struktur (in den meisten Fällen jedenfalls):

"Dabei bezieht sich das erste der drei Glieder auf die universellen Elemente oder Gesetze, das zweite gruppiert Klassen von Formen und sucht sie universalen Gesetzen unterzuordnen, das dritte geht bis in die entferntesten Details, indem es individuelle Phänomene beschreibt und sich bemüht, diese zu erklären. Doch sind nicht alle Unterteilungen von dieser Art" (ibid.)

Peirce stellt diese Dreiteilung allgemein folgendermaßen auf: "Alle Wissenschaft ist entweder A. Entdeckende Wissenschaft; B. Überprüfende Wissenschaft oder C. Praktische Wissenschaft" (ibid.)

Unter überprüfender Wissenschaft (B.) versteht Peirce die ordnende Tätigkeit, "die Resultate des Entdeckens anzuordnen", einen Überblick zu geben, sowie eine Wissenschaftstheorie zu formulieren. An Beispielen nennt Peirce Humboldts Kosmos, Comtes "Philosophie positive" und Spencers "Synthetic Philosophy". Aber auch seine eigene Unternehmung hat hier ihren Platz: "Die Klassifikation der Wissenschaften [Anm,: Und damit eben das ganze erste Kapitel des Syllabus] gehört in diese Abteilung" (ibid.)




Im Vorwort (PLZ, p. 5) gibt Peirce gleich, gut pragmatizistisch ("Überlege, welche Wirkungen, die denkbarerweise praktische Bedeutung haben können, Du dem Gegenstand Deines Begriffes zuschreibst. Dann ist Dein Begriff dieser Wirkungen der ganze Umfang Deines Begriffs des Gegenstandes") den Zweck an, den sein Syllabus haben soll: Er soll als Ergänzung zu einer Vorlesungsreihe dienen, wobei das, "was sich leicht beim Hören der Vorlesungen erschließt" und das, was bereits in gedruckter Form publiziert wurde, ausgelassen wurde. Genauso wie die Vorlesungen sei auch der Stoff des gedruckten Syllabus vollkommen neu. Peirce betont aber gleichzeitig, dass so manche Wiederholungen "bekannter Themen" notwendig sind, um die "neue Thematik" zu entfalten.

Mit dieser Ankündigung ist man gewissermaßen bereits mitten drin in der peirceschen Art und Weise, das Denken zu entfalten: Ständig geht es um etwas Neues, aber im Grunde doch immer auch um das Gleiche. Dem beständigen "der Wahrheit" auf der Spur sein bedeutet für Peirce, die Sprache und das Denken in immer passenderen, "besseren" Begriffen bzw. Symbolen darzustellen. Dass dabei die Begrifflichkeit zu einem Gegenstand einerseits möglichst klar und deutlich sein soll, andererseits in zahlreichen Varianten vorliegt, von denen keine als vollkommen "wahr" oder "falsch" zu bezeichnen ist, macht den Reiz des peirceschen Denkens aus.

So gibt es etwa nicht weniger als Sieben Definitionen der Pragmatischen Maxime. Von den zahllosen Varianten einer Definition von "Zeichen" ganz zu schweigen.




Freitag, 20. März 2015
Der "Syllabus of Certain Topics of Logic" von Peirce, wie er auf deutsch als "Phänomen und Logik der Zeichen" (herausgegeben und übersetzt von Helmut Pape, Frankfurt a. Main, Suhrkamp, 3. Aufl.1998), hinfort "PLZ", veröffentlicht wurde (erstmals 1983), ist im Grunde ein Konvolut bzw. eine Auswahl an Manuskripten, die in den Collected Papers verstreut vorliegen (Siehe dazu PLZ, p. 33).

Der Syllabus besteht in dieser herausgegebenen Form aus sieben Kapiteln und drei Anhängen, in denen eine stringente Darstellung von Peirce´ Zeichentheorie vorgelegt wird (s. PLZ, p. 5).

Die großen Themenbereiche des Syllabus sind demnach:

I. Der "Entwurf einer Klassifikation der Wissenschaften"

II. "Die Ethik der Terminologie"

III. "Einige richtungsweisende Ideen für die Logik"

IV. Eine "Spekulative Grammatik" (in der u.a. eine für das Verständnis der Semiotik von Peirce zentralen Unterscheidung von Ikon, Index und Symbol sowie der grundlegenden Argumente bzw. Schlussarten Deduktion, Induktion und Abduktion gegeben wird).

V. Eine "Nomenklatur und Unterteilung der Dyadischen Relationen"

VI. Die "Nomenklatur und Unterteilung der Triadischen Relationen"

VII. "Konventionen und Regeln der Existentiellen Graphen"

Viele der in diesen Überschriften genannten Termini muten recht seltam an, was allerdings seinen guten Sinn hat, wenn man das peircesche Denken verfolgt, wie sich zeigen wird.

Zum Originaltitel "Syllabus of Certain Topics of Logic":

Der Begriff "Syllabus" hat die Bedeutung von "Zusammenfassung", "Aufzählung", "Register" und ist "pseudo-lateinisch" vom griechischen "συλλαμβάνω", "ich stelle zusammen", genommen. Hierzu und zu den theologischen und juridischen Implikationen des Begriffs siehe z.B. den Begriff Syllabus bei Wikipedia

Zum Begriff "Logik":

"Logik" im Sinne von "richtigem Denken" bzw. "richtigem Schließen" ist für Peirce ein absoluter Grundstein in der Erforschung der Zeichen, wie sich bald zeigen wird. Es ist für das Verständnis des peirceschen Denkens absolut wesentlich zu verstehen, was genau Peirce selbst mit "Logik" meint.

Aber: "Logik" ist hier ein mindestens genauso schillernd-oszillierender Begriff wie "Zeichen" und man sollte sich nicht entmutigen lassen, wenn einem in den Ausführungen, die Peirce gibt, alles recht eigentlich wie ein "spanisches Dorf" vorkommt. Auf der einen Seite ist alles klar definiert, auf einer anderen Seite wieder alles sehr im Fluss. Aber alles der Reihe nach...




Donnerstag, 19. März 2015
Einführung

Charles Sanders Peirce

Der amerikanische Philosoph Charles S. Peirce gilt als Begründer des Pragmatismus (ein ziemlich unterschiedlich interpretierter Begriff) sowie als einer der wesentlichen Autoren einer umfassenden Zeichentheorie, einer Semiotik (ein erst recht ziemlich unterschiedlich interpretierter Begriff). In absoluter Kurzfassung könnte man sagen, dass nach Peirce alles Denken und Handeln mittels Zeichen funktioniert, dass Zeichen also das Kommunikationsmittel schlechthin sind. In zahllosen Anläufen über Jahrzehnte hinweg hat Peirce immer neue Definitionen eines Zeichensystems versucht, freilich ohne es jemals abschließen zu können. Vieles ist dabei Fragment und Manuskript geblieben, die peircesche Terminologie hat sich von den 1860er Jahren bis in die 1910er Jahre oft stark gewandelt. Was gleich blieb, war ein stupender Versuch, die Zeichenvermitteltheit des menschlichen Daseins (aber auch im Grunde auch nichtmenschlicher, natürlicher Systeme) zu klären und umfassend darzustellen.

Im Folgenden soll hier das Projekt "Peirce: Syllabus" gestartet werden, benannt nach einem längeren Manuskript aus dem Jahr 1903 (Syllabus of Certain Topics of Logic), in welchem Peirce eine längere, zusammenhängende (Neu)fassung seiner Zeichentheorie vorlegte. Anders als bei vielen seiner (längst noch nicht vollständig veröffentlichten) Arbeiten, ist der "Syllabus" ein von Peirce selbst bis zur "Druckreife" gebrachtes Manuskript. Es soll hier der Versuch gemacht werden, anhand einer genauen Analyse dieses Textes das peircesche Zeichen-Denken neu zu erschließen. Der "Syllabus" soll dabei gewissermaßen als Roter Faden dienen, um das verwirrend-komplexe Denken von Peirce - auch für die heutige verwirrende Zeit - verstehbar zu machen. Dabei soll möglichst langsam vorgegangen werden. Abweichungen, Notizen und Fußnoten wird es wohl reichlich geben, dabei soll aber nie der Primärtext des "Syllabus" aus den Augen verloren werden.

Dieser Versuch ist "nichts" als ein weiterer Interpretant.

Als Textgrundlage gilt: Charles S. Peirce, Phänomen und Logik der Zeichen. Hg. v. Helmut Pape. Frankfurt a. Main, Suhrkamp, 3. Aufl. 1998.